Ehemalige Heimkinder

„Die Zeit heilt keine Wunden“

Diözese arbeitet in einer Studie Geschichte der Heimerziehung auf

Mit einer 320-seitigen, vom Stuttgarter Institut für angewandte Sozialwissenschaften erstellten Studie „Die Zeit heilt keine Wunden“ hat die Diözese Rottenburg-Stuttgart nun die Geschichte der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren auf ihrem Gebiet aufgearbeitet. Nach den Worten von Bischof Gebhard Fürst ist die Arbeit ein „wichtiger Beitrag zur Diözesangeschichte und zur Geschichte des diakonischen Handelns in der Diözese“.

Die Wissenschaftler befragten 25 ehemalige Heimkinder und 15 Erziehungspersonen, die in den 50er und 60er Jahren in den heute noch bestehenden 15 Jugendhilfeeinrichtungen der Diözese lebten und arbeiteten. Ein Teil kannte nach Angaben der Projektleiterin Prof. Susanne Schäfer-Walkmann auch die 18 Einrichtungen, die im Laufe der letzten 60 Jahre aufgelöst wurden. Zudem befragten die Forscher 14 Heimkinder und 10 Erziehungspersonen als Zeitzeugen der 80er und 90er Jahre. Bischof Fürst würdigte an der Studie besonders, dass sie Schicksale von Heimkindern in den Kontext der Zeitgeschichte, der Sozial- und der Rechtsstrukturen sowie der Erziehungsvorstellungen der damaligen Zeit stelle. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe das Personal in den Heimen vielfach unter Überlastung und Überforderung gelitten. Die Heimaufsicht habe oft versagt, „was leider in vielen Fällen auch von der kirchlichen Heimaufsicht dieser Zeit gesagt werden muss“.

Der Bischof unterstrich, dass in den oft von Ordensleuten geführten Heimen der Diözese lange Zeit ein Konzept der so genannten Rettungspädagogik galt, nach deren Vorstellungen Kinder und Jugendliche zu einem „heiligen“ Leben nach den Idealen der Ordensleute erzogen werden sollten. Tatsächlich sei es schwierig zu klären, so Bischof Fürst, was aus damaliger Sicht „normal“ war und wo die Grenze zu unverhältnismäßiger Härte überschritten wurde. Die Studie belege auch, dass es „Erziehungspersonen gab, die ohne Schläge auskamen, die Liebe schenkten und Vertrauen vermittelten“. Sie hätten den Kindern und Jugendlichen nach Kräften die Familie ersetzen wollen.

„Ich lese Selbstzeugnisse von Überforderung, von unfreiwilliger Berufsausübung in diesem Feld, von Leiden an den äußeren Gegebenheiten und an den als falsch empfundenen Erziehungspraktiken, auch von Resignation“, so der Bischof. Es beschäme ihn zutiefst, dass im Verantwortungsbereich der Kirche damals so schlimme Dinge geschehen konnten. Er bitte die ehemaligen Heimkinder persönlich und im Namen der Diözese um Vergebung. „Ich hoffe, dass sie das hören und annehmen können.“

Schäfer-Walkmann betonte, dass physisch und psychisch gewalttätige Übergriffe auf Heimkinder in den 50er und 60er Jahren keine Einzelfälle gewesen seien. Umso wichtiger sei es, diese Vergangenheit systematisch differenziert aufzuarbeiten. Wenngleich Erfahrungen von Gewalt die Erinnerungen bei vielen Gesprächspartnern dominierten, so lasse sich aus wissenschaftlicher Sicht die Lebenswirklichkeit in den Heimen nicht ausschließlich auf die Formel ‚Nur Schläge im Namen des Herrn‘ reduzieren. Dies würde jenen nicht gerecht, die Kindern Geborgenheit vermittelten. Auch von ihnen werde in der Studie berichtet. Die Wissenschaftlerin verwies auf massive Veränderungen in der Heimpädagogik der vergangenen Jahrzehnte. Heime seien keine „totalen Institutionen mehr, sondern alternative, neue Lebensorte für junge Menschen“. So sagten befragte Zeitzeugen der 80er und 90er Jahre, dass Heimerziehung das Beste gewesen sei, was ihnen passieren konnte.

Die Leiterin der Hauptabteilung Caritas der Diözese, Irme Stetter-Karp, die die Kooperation mit dem IfaS koordinierte, dankte den ehemaligen Heimkinder, den damaligen Erziehungspersonen und den Wissenschaftlern für deren engagierte Mitarbeit. Die Studie sollte laut Stetter-Karp ergebnisoffen und differenziert die Lebenswirklichkeit in den Heimen aufarbeiten und Opfern Raum geben, erlittenes Unrecht und erfahrenes Leid auszudrücken. Dies sei ebenso gelungen wie eine Einordnung der subjektiven Erfahrungen von Betroffenen in einen historischen Kontext. Mit der Studie sei eine Perspektive geschaffen worden „für die Frage, worin heute und morgen in der Kinder- und Jugendhilfe neue Gefahrenmomente liegen und wo vorgesorgt werden muss“.

Pressemitteilung drs/Thomas Broch 4.4.2011

"Der Caritasverband anerkennt das Leid"

Caritasdirektor bedauert Versagen der Caritas-Heimerziehung in 50er und 60er Jahren

Stuttgart, 4. April 2011 – Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart bedauert mit seinen Mitgliedseinrichtungen der Jugendhilfe das Versagen in der Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren.

„Ich bitte für den Caritasverband um Entschuldigung für ertragenes und zugefügtes Unrecht“, erklärte heute Diözesancaritasdirektor Johannes Böcker im Rahmen der Vorstellung der Studie „Die Zeit heilt keine Wunden“ – Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren in der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Haus der Katholischen Kirche in Stuttgart. Der Caritasverband sehe das Leid und das Versagen und anerkenne es. Oftmals seien durch Gewalt, Zwang und restriktive Erziehungsmethoden die persönlichen Entwicklungschancen und Teilhabemöglichkeiten für die damals so jungen Menschen erheblich eingeschränkt worden. Die Kenntnis um historische Zusammenhänge entschuldige nichts von dem Leid, das in dieser Zeit jungen Menschen in und außerhalb von Einrichtungen unter der Überschrift „Erziehung“ angetan worden sei.

„Wir werden in und mit den Einrichtungen der Jugendhilfe, den Beratungsstellen und mit persönlicher Unterstützung weiter für die betroffenen Menschen da sein, auch wenn wir wissen, dass diese angebotene Unterstützung nur Ersatz für etwas ist, was früher schon gebraucht worden wäre.“

In seinem „Ausblick“ auf die Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe heute bezeichnete Johannes Böcker die Kinderrechte, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben sind, als „Dreh- und Angelpunkt“ aller Anstrengungen. Dazu zählten allen voran das Recht junger Menschen sich aktiv und selbstbestimmt an der Gestaltung ihres Lebens zu beteiligen und das Recht jedes Kindes, gewaltfrei aufwachsen zu können und erzogen zu werden. Diesen Rechten gelte es, im Alltag jedes Kindes, egal, ob es in der Familie oder in einer Einrichtung aufwachse, Geltung zu verschaffen, so Böcker . Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart werde sich darum weiter nachdrücklich für die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einsetzen, damit Familien gestützt und gestärkt und Kindern eine gesunde Entwicklung ermöglicht wird.

„Mit den Einrichtungen der Jugendhilfe in unserer Diözese werden wir weiter in engem Gespräch bleiben, um die vielen positiven Prozesse der letzten Jahre weiter zu fördern“, betonte der Caritasdirektor. Er bekräftigte sein „grundlegendes Vertrauen, dass in den Mitgliedseinrichtungen des Diözesancaritasverbands heute verantwortungsvoll, respektvoll, engagiert und präventiv“ für die Zukunft der Jugendhilfe gearbeitet werde.

Telefon-Hotline für ehemalige Heimkinder

Beratung für ehemalige Heimkinder - Katholische Kirche schaltet bundesweite Telefon-Seelsorge für Betroffene

Die katholische Kirche hat am 13.01.2010 ihre bundesweite Telefon-Hotline für ehemalige Heimkinder vorgestellt, die in den 50er und 60er Jahren in katholischen Einrichtungen untergebracht waren.

Unter der Nummer 0180 4100 400 (Kosten: 20 Ct pro Anruf aus dem deutschen Festnetz) können ab sofort ehemalige Heimkinder der Nachkriegszeit anrufen, ihre Lebensgeschichte erzählen und sich therapeutisch beraten lassen - Montag, Mittwoch und Freitag jeweils zwischen 9 und 18 Uhr.

Der Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz Pater Dr. Hans Langendörfer sagte bei der Vorstellung des Beratungsangebots: „Die Deutsche Bischofskonferenz bedauert zutiefst, dass damals offenbar auch in katholischen Heimen Kindern und Jugendlichen Unrecht sowie seelische und körperliche Gewalt angetan wurde.“ Mit der Hotline wolle sich die katholische Kirche den Erwartungen ehemaliger Heimkinder stellen und sie bei der Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichten nach Kräften unterstützen. „Sie will die Entstigmatisierung ehemaliger Heimkinder und ihre Rehabilitation.“

Sr. Sara Böhmer, Generalpriorin der Dominikanerinnen von Bethanien, und Vertreterin der Deutschen Ordensobernkonferenz, sagte: „Jeder Fall von Misshandlung, Demütigung und Gewalt war und ist einer zuviel. Das gilt für jedes Kind und jeden Jugendlichen, die in unseren Heimen gelitten haben. Deshalb bemühen wir uns nach Kräften, mit möglichst jedem und jeder Einzelnen zu sprechen, die das möchten." Die Hotline sei ein niederschwelliges Gesprächsangebot, das vor allem jene Betroffenen erreichen solle, die bisher nicht mit ehemaligen Trägern in Kontakt seien „weil sie keine direkten Anknüpfungspunkte mehr haben" oder „weil sie aufgrund ihrer Erfahrungen den direkten Kontakt bisher vermieden haben."

Der Diözesanbeauftragte der Ehe-, Familien- und Lebensberatung im Erzbistum Köln, Dr. Hannspeter Schmidt, erläuterte das seelsorgerische Angebot der Hotline, das die Ehe-, Familien-, und Lebensberatung im Erzbistum Köln im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz realisiert. „Die Hotline wird eine erste Anlaufstelle sein für Betroffene, telefonisch über das zu sprechen, was sie erfahren und erlitten haben – auch anonym, falls das gewünscht ist. Die Berater am Telefon sind geschulte Zuhörer und psychotherapeutisch kompetente Gesprächspartner." Die Beratung könne unabhängig von Konfession, Weltanschauung und Herkunft in Anspruch genommen werden, betonte Schmidt. Zunächst werden zwei Mitarbeiter die Erreichbarkeit der Hotline gewährleisten. Das Projekt soll für ein Jahr laufen und bei Bedarf verlängert werden.

Neben der Telefonberatung gibt es auch die Möglichkeit zur Online-Beratung. Auf Wunsch der Anrufer und je nach Bedarf werden die Mitarbeiter der Hotline auch psychotherapeutische Hilfe vermitteln. Außerdem kann der Kontakt zu den jeweiligen Trägern der Einrichtungen bzw. ihren heutigen Rechtsnachfolgern ermöglicht werden.

Nähere Informationen unter: www.heimkinder-hotline.de oder www.dbk.de

Studie vorgestellt - Bischof bittet um Entschuldigung

Der SWR hat die Vorstellung der Studie kurz dokumentiert und am 4.4.2011 in Landesschau aktuell gesendet.

Zum Beitrag im SWR

Wo gibt es diese "Heimkinderstudie"?

Susanne Schäfer-Walkmann, Constanze Störk-Biber, Hildegard Tries

Die Zeit heilt keine Wunden

Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren in der Diözese Rottenburg-Stuttgart

ISBN 978-3-7841-2031-7
1. Auflage, April 2011
Lamberutsverlag, Freiburg
300 S., 29,00 € (D)

Mit diesem Buch legt die Diözese Rottenburg-Stuttgart ihre Studie zur Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren vor. Bereits 2009 entschied sich die Diözese Rottenburg-Stuttgart zu einer eigenen Aufarbeitung der Heimerziehung und nahm damit eine zentrale Forderung des Runden Tisches Heimerziehung vom Dezember 2010 vorweg.Grundlage für die Entscheidung war allein die Überzeugung, dass die Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren auch in der Diözese Rottenburg-Stuttgart einer gründlichen und kritischen Aufarbeitung bedarf.

Die Studie hat mehrere Intentionen. Sie soll ein qualitativer und eigenständiger Beitrag zu einer ergebnisoffenen und differenzierten Aufarbeitung der Lebenswirklichkeit in den Heimen der Erziehungshilfe sein, den Opfern Raum geben für eine Artikulation von erlittenem Unrecht und von erfahrenem Leid, die subjektiven Erfahrungen Betroffener konsequent in einen historischen Kontext einbetten und so Perspektiven eröffnen für die Frage, worin heute und morgen in der Kinder- und Jugendhilfe neue Gefahrenmomente liegen und wo präventiver Handlungsbedarf besteht.

Anlauf- und Beratungsstelle zur Heimerziehung in den Jahren 1949 bis 1975

Kontaktdaten:

Feuerseeplatz 5

70176 Stuttgart

Tel. 0711 / 35 144 983

E-Mail kontakt(at)akt-bw[.]de